4.1 Verhaltensursachen
Die Merkmale aller Lebewesen sind das Ergebnis evolutiver Anpassungen an ihre Umwelt. Jedes Verhalten birgt dabei einen bestimmten Nutzen, ist jedoch oft mit Kosten verbunden, sei es in Form von Energieaufwand, Nahrung oder Einbussen im Fortpflanzungserfolg. Aus evolutiver Sicht stellen das Überleben und die Weitergabe der eigenen Gene somit stets eine Abwägung zwischen Kosten und Nutzen dar.
Das Singen der Amseln
Sobald die Tage im Frühling etwas wärmer werden und die Sonne wieder früher über den Horizont steigt, beginnen Amseln ihre melodischen Lieder zu singen. Dieses Verhalten ist eng mit den längeren Tagen zu dieser Jahreszeit verbunden. Wenn die Tage länger werden und die Lichtintensität steigt, nimmt das auch die Amsel über ihre Augen wahr. Diese visuellen Informationen werden im Gehirn kombiniert und beeinflussen die Regulation des Hormonhaushaltes. Die Ausschüttung von Hormonen wie Testosteron wird ausgelöst (Abb. 4.1).
Testosteron beeinflusst wiederum spezielle Gehirnregionen, die für das Erlernen und Ausführen von Gesang verantwortlich sind. Dieser Ablauf erklärt die proximalen Ursachen des Singverhaltens: Es sind die direkten, körperlichen Prozesse, die dafür sorgen, dass die Amsel singt.
Aber warum singt die Amsel überhaupt? Aus einer evolutionären Perspektive wird das deutlich: Der Gesang hilft der Amsel, ein Revier zu markieren. Wenn ein anderes Männchen das Lied hört, erkennt es, dass dieses Gebiet bereits besetzt ist, und bleibt im besten Fall fern.
Zudem ist der Gesang auch für den Fortpflanzungserfolg essenziell. Die weiblichen Amseln hören aufmerksam zu und beurteilen die Qualität des Gesangs. Ein Männchen, das besonders laut, oft und melodisch singt, zeigt damit, dass es gesund und stark ist. Das beeindruckt die Weibchen, die sich oft für einen Sänger mit dem besten Gesang entscheiden. Dieses Verhalten erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Amsel ihre Gene weitergeben kann. Man spricht von ultimaten Ursachen des Verhaltens.

Abbildung 4.1: Proximate und ultimate Ursachen des Gesangs der Amsel (Turdus merula).
○ Aufgabe 1. Definieren Sie mithilfe der Informationen aus dem Text, was man unter proximaten und ultimaten Verhaltensweisen versteht.
◑ Aufgabe 2. Warum ist es in der Verhaltensbiologie wichtig, beide Perspektiven zu betrachten?
● Aufgabe 3 | Wissen verknüpfen. Welche Selektionsmechanismen haben wahrscheinlich den grössten Einfluss auf die evolutive Entwicklung des Gesangs von Amseln?